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TTIP – Was wir bei der Transatlantischen Umarmung bedenken sollten

von Prof. Dr. Wohlmeyer

Immanuel Kant hat uns Europäern das mündigmachende Sapere aude!, das Wage zu denken, hinterlassen.
Am 14.7.2014 hat eine neuerliche (die sechste) Runde in den Verhandlungen USA-EU über ein umfassendes Wirtschaftsabkommen, das in seiner bislang bekanntgewordenen Dimension ein Gesellschaftsabkommen ist, begonnen. Da bisher nur durchgesickerte Details diskutiert wurden, erscheint es geboten, einer breiteren Sicht Raum zu geben. In der gebotenen Kürze können allerdings nur Eckpunkte angesprochen werden, zumal der aktuelle Text nach wie vor nicht zur Verfügung gestellt wird.
Es gehört zum allgemeinen Hausverstand, dass man sich bei einem Rechtsgeschäft den Partner genau ansieht, seine allgemeine Situation, seine Interessenslage, sein bisheriges und aktuelles Verhalten sowie seine gesellschaftspolitische und geopolitische Grundeinstellung (im Englischen: seine «Philosophie»).
Dieser erste Gedankenschritt muss bereits zu misstrauischer Sorge Anlass geben:

Die USA sind de facto pleite und halten sich nur mehr mit ungedeckter Geldvermehrung über Wasser. Für jeden Dollar, den sie ausgeben, müssen sie rund 50 Cent irgendwie herbeischaffen. (Die Wege hierzu habe ich in meinem Buch «Empörung in Europa – Wege aus der Krise» aufgezeigt.) Dies geht so lange, wie der US-Dollar noch als Welt-Leitwährung akzeptiert wird. Diese Position ist aber in dramatischem Abbröckeln begriffen und kann auch mit wirtschaftlichen und militärischen «Sanktionen» nicht mehr aufgehalten werden. Viele Staaten beginnen in Landeswährungen zu handeln (zum Beispiel China, Japan, Indien, Iran, Russland und in letzter Zeit sogar die treuen Vasallen Deutschland und Südkorea). Hinzu kommt, dass das IWF-WB-System, das die finanzielle Vormacht der USA bisher abgesichert hat (Sperrminorität der USA), zunehmend unterlaufen wird. Die lateinamerikanischen und asiatischen Staaten sind dabei, eigene Entwicklungsbanken und IWF-analoge Hilfsfonds zu etablieren.
Die sich ergebende Situation ist verzweifelt. Die nicht rückzahlbaren Staatschulden betragen bereits über 17 Billionen (US-Trillionen) US-Dollar, und die bisherige weltbeherrschende Hochrüstung ist in diesem Ausmaß nicht mehr finanzierbar. Es bleiben den USA nur noch drei Auswege offen: Ein Schuldner erzeugender Krieg, eine radikale Abwertung des US-Dollars (de facto ein Weltbetrug) oder ein Neustart über ein Weltwährungsabkommen nach dem Muster der Internationalen Clearing Union, die bereits 1944 von J. M. Keynes vorgeschlagen, aber von den USA als beherrschende Finanzmacht abgelehnt wurde. Dieser ausgewogene Neustart müsste mit einem Weltschuldenschnitt verbunden werden.
Kurzfristig können sich die USA noch durch die Plünderung des reichen Europas, (siehe die US-induzierte Finanzkrise und Verschuldung Europas zugunsten der US-Finanz­eliten) und die Anzettelung von bewaffneten Konflikten ein Respiro verschaffen.
Sieht man die TTIP-Verhandlungen vor diesem Hintergrund, dann müsste man zuerst eine interne Neuordnung des US-Finanzregimes und des Weltfinanzsystems verlangen, bevor man sich mit einem Partner ins Bett legt, der pleite ist und Kriege braucht. Wenn man einen untergehenden Freund retten will, dann muss dieser die Rettungsstrategie akzeptieren oder beide gehen in tödlicher Umarmung unter. Derzeit benehmen sich die USA aber wie ein seine Sucht leugnender, gewalttätiger Drogensüchtiger und die EU wie die Maus vor der Schlange. Ein Dialog auf Augenhöhe ist erforderlich, wenn wir zukunftsfähig agieren wollen.
Im zweiten Gedankenschritt sollten die wesentlichen Interessen der USA betrachtet werden:
Die US-Wirtschaft ist militär- und erdöl-lastig. Man hat in diese Sektoren massiv investiert und verteidigt diese. Drei weitere Schlüsselbereiche sind Finanzen, Medien und Landwirtschaft. In all diesen Bereichen versucht man interessensfestigende, gewinnbringende Rahmenbedingungen zu Lasten der Europäer durchzudrücken. Dazu kommt das verständliche Interesse, mit (längerfristig wertlosen) «Papierdollars» in Europa reale Werte aufzukaufen und sich dieses unredliche Eigentum abzusichern. Letzteres bringt uns zum Thema des «Investitionsschutzes». Dieser soll im ISDS (Investor-State-Dispute- Settlement, Investor-Staat-Streitbeilegung) institutionalisiert werden.
Wenn man Vorstehendem den dritten Gedankenschritt hinzufügt, der das bisherige Agieren und die gesellschaftspolitische und geopolitische Grundeinstellung anleuchtet, dann wird es noch brisanter. Die USA haben in der Nachkriegszeit durchgehend beherrschend agiert und ihre Interessen als «Rechtsposition» einseitig durchgesetzt. Ein von mir mitgehörtes Interview mit dem US-Rechtsberater bei den TTIP-Verhandlungen und früheren US-Botschafter bei der EU (1993–1996), Stuart Eizenstat, möge dies illustrieren: Auf die unterschiedlichen Qualitätsstandards angesprochen – insbesondere bei Lebensmitteln – meinte er: «Was für die US-Bürger gut genug sei, müsse es auch für die Europäer sein.» Eine klare unilaterale Botschaft … Die Durchsetzung der Anwendung von US-Recht in Form der aufgezwungenen Übernahme des FACTA-Gesetzes (Foreign Account Compliance Act), gemäß dem europäische Banken die Kontobewegungen von US-Bürgern melden müssen, und die jüngsten «Sanktionen» gegen europäische Banken und andere Unternehmen ohne rechtliche Grundlage sollten auch Anlass dazu sein, sich zu überlegen, ob man weiteren Vereinbarungen zustimmen soll, die für ähnliche Vorgangsweisen «legale» Ansätze bieten können.
Wer aus dem praktischen Wirtschaftsleben den «american type of agreement» kennt, wird noch vorsichtiger sein. Während nämlich gemäß der europäischen Rechtskultur die wesentlichen Regeln in den Gesetzbüchern (Handelsrecht und allgemeines Zivilrecht) festgehalten sind und in den Verträgen nur die speziellen Gegebenheiten geregelt werden, wird in fast jedem grösseren US-Vertrag seitenweise gleichsam eine besondere Rechtsordnung mit vielen Fallstricken aufgestellt. Daher sind in und mit den USA beziehungsweise den US-Firmen die Rechtberatungskosten enorm hoch und die Rechtsunsicherheit bei Streitigkeiten ebenso. Man schätzt die rechtlichen Transaktionskosten in den USA auf bis zu 10% des BIP.
Besonders gravierend sind die Unterschiede in der Risikobeurteilung und der Zuordnung der Beweislast. Während wir Europäer nach dem Vorsichtsprinzip handeln (Unterlassung bei einer plausiblen Gefahr) verlangt die US-Rechtsprechung «scientific evidence», das heißt «wissenschaftlich nachweisbaren Schaden». Ich habe hierzu in meiner Vorlesung das fiktive Beispiel eines Arztes verwendet, der körperliche Schädigungen beim Gebrauch von Contergan vermutet und daher von diesem Pharmakon abgeraten hat. Er wäre zu Schadenersatz verurteilt worden, solange die Schädigung nicht statistisch signifikant nachgewiesen ist – also größtes menschliches Leid eingetreten ist. Ähnlich ist es bei der Beweislast: Der meist finanziell schwächere Geschädigte muss die Schädigung beweisen und nicht der potentielle Schädiger die Unschädlichkeit. Dies gilt unter anderem bei in Verkehr gesetzten Haushaltschemikalien.
Im Bereich der Gesellschaftspolitik prallen völlig unterschiedliche «Philosophien» aufeinander: Während wir in Europa das Modell des solidarischen Sozialstaates entwickelt und weitgehend umgesetzt haben, wird dieses in den USA weitgehend blockiert, weil sich die Reichen eines Beitrages für das Gemeinwohl systematisch entziehen. Dadurch gibt es niedrigere Steuern und Lohnnebenkosten. Daraus folgt ein Standortwettbewerb, der die Sozialstandards nach unten treibt.
Im Bereich der Geopolitik, in die wir noch enger hineingeklammert würden, gilt noch immer der US-Traum von der Weltmacht in der Nachfolge des British Empire, den man militärisch und durch Finanzkolonialismus abzusichern versucht. Die Angst vor einem gemeinsamen Wirtschaftsraum der Westeuropäer mit den Russen mit hohen Rohstoffreserven spielt hierbei eine große Rolle. Daraus erklärt sich auch die gegenwärtig initiierte Ukraine-Krise, in die Europa hineingezogen wird.
Die Zukunft muss jedoch in einer solidarischen Weltgestaltung liegen, in der die USA und Europa gesuchte Partner und Helfer sind.
Sieht man sich vor diesem Hintergrund die Genese des TTIP-Projektes an, fallen folgende Tatsachen ins Auge:
Schon 1941 hat der spätere Aussenminister J. F. Dulles geschrieben, dass man Europa nach dem Krieg zentralistisch organisieren und zu einem US-Hoffnungsmarkt umgestalten solle. Dieser Vorschlag ging maß­geblich durch das Gegenhalten von Charles de Gaulle nicht auf.
Die vor allem aus Vertretern der Hochfinanz zusammengesetzte Trilaterale Kommission hat bereits 1973 für vereinheitlichende Marktregulierungen plädiert. 2007 wurde der TEC (Transatlantic Economic Council) ins Leben gerufen, dessen vornehmliche Aufgabe es war, «Marktregulierungen zu harmonisieren». Im Rahmen des TEC wurde 2011 eine «High Level Working Group on Jobs and Growth» (Arbeitsplätze und Wachstum), kurz HLWG, installiert (man beachte den schönfärbenden Titel), deren Endbericht im Februar 2013 vorgelegt wurde. Auf diesen Endbericht soll noch ein High Level Regulatory Cooperation Forum folgen. Es ist interessant (bezeichnend), dass die EU-Kommission nicht bereit war und ist, dem Corporate Europe Obvservatory, das sich mit dem Lobbying in der EU befasst, die Zusammensetzung der HLWG bekanntzugeben. Dasselbe gilt für die Detailergebnisse («Die Vielzahl der Unterlagen verhindert eine entsprechende Auskunft.»). Der Endbericht ist praktisch die nicht demokratisch legitimierte Vorgabe (Road map) für die weiteren Verhandlungen. Er spricht von den enormen Vorteilen eines «Integrierten transatlantischen Marktplatzes». Dies soll vor allem bewirkt werden durch das Fallen aller Handelsschranken und die Vereinbarkeit der gesetzlichen Regelwerke (enhancing compatibility of regulatory regimes). Die «Stärkung der ausserordentlich engen strategischen Partnerschaft zwischen den USA und Europa» soll schon alleine auf Grund der Größe des Marktes (rund 50 % des Weltbruttoprodukts) bewirken, dass die Spielregeln auch global übernommen werden müssen. Der Bericht ist voll hoffnungsvoller, aber wenig gesicherter Positivmeldungen. Wenn einem erhofften BIP-Zuwachs von 0,5 % in der EU 400 000 Arbeitsplätze zugeordnet werden und gleichzeitig in den USA und in Europa die Zukunft der Robotik (Wealth Daily und Word Future Society) angepriesen und vorausgesagt wird, dann wird es trotz beziehungsweise gerade wegen des BIP-Wachstums zu mehr Arbeitslosigkeit kommen, weil der Rationalisierungseffekt der Investitionen in der Regel höher ist als der Kapazitätserweiterungseffekt. Hinzugefügt sei, dass gemäss der herangezogenen Prognose des Center of Economic Policy Research dieses Wachstum bis 2027 erwartet wird, was einer Jahresrate von 0,034 % entspricht, und dass bei einer EU-Arbeitslosenzahl von über 26 Millionen dieser Hoffnungsschimmer bei «business as usual» keine Problemlösung bewirkt. Vielmehr bedarf es einer grundsätzlichen Änderung der Gesamtpolitik. Der ehemalige Weltbankökonom H. Daly hat schon 1994 die Gefahren des freien Handels (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1994) aufgezeigt, wenn er lokale, angepasste und gesellschaftlich innovative Lösungen unterdrückt. Die geplante de facto US-Wirtschaftshoheit in Europa würde das europäische Sozialmodell zum Einsturz bringen – so wie es der US-Adept, Mario Draghi, derzeit Präsident der EZB, bereits angekündigt hat. Die enorme Einkommensspreizung in den USA und die Tatsache, dass gegenwärtig fast 15 % der Bevölkerung mit Lebenmittelmarken (food stamps – Supplemental Nutrition Assistance Program) über Wasser gehalten werden müssen, unterstreichen diese Befürchtung. Die Gewerkschaften diesseits und jenseits des Atlantik sind daher entschiedene Gegner des TTIP, weil es die gegenwärtige Dynamik festschreiben würde.
In seinen verlautbarten Erwartungen ist das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, BMWFW, noch euphorischer als die HLWG und die von dieser bestellten Studien. Gemäß einer vom BMWFW in Auftrag gegebenen Arbeit erwartet man sich durch das TTIP folgende Schübe: BIP +1,7 %, Löhne +1 %, Beschäftigung +0,5 %, bei Versicherungen +3,7 %, Textilien und Bekleidung +3,7 % und bei Autos sogar +12,4 %. Wie man zu diesen Einschätzungen, die natürlich zu einer positiven Stellungnahme zum TTIP führen, kommt, ist schwer nachzuvollziehen.
Die durchgesickerten Leitlinien des Rates der EU vom 17.6.2013 für die Verhandlungen richten sich weitgehend nach dem Bericht der High Level Working Group. Die 18 Seiten sind auf den ersten Blick akzeptabel. Wenn man aber Passagen wie «höchstes Liberalisierungsniveau … wobei im wesentlichen alle Sektoren und Erbringungsarten erfasst werden», «ungehinderter Transfer von Kapital und Zahlungen durch die Investoren» und «vollkommene Liberalisierung der laufenden Zahlungen und des Kapitalverkehrs» und «Schaffung transatlantischer Institutionen für die regulatorische Zusammenarbeit» liest, dann riecht dies trotz gegenteiliger Beteuerungen nach «Turbokapitalismus» ohne soziale und ökologische Bremsen, Aufgabe der europäischen öffentlichen Dienstleistungstradition und Einschränkung der Volkssouveränität zugunsten institutionalisierter Konzerninteressen.
Hinzu kommt noch der Knackpunkt des SIDS (State-Investor-Dispute-Settlement, Staat-Investor-Streitbeilegung). Gemäß dem zugänglichen European Parliament/Legislative Observatory 2012/0163 (COD) hat das EU-Parlament den Entwurf am 23.5.2013 an das Handelskomitee zurückverwiesen. Dieser Entwurf anerkennt im wesentlichen das SIDS, fordert mehr Information und enthält eine für mich bemerkenswerte Passage, nämlich dass für das Anhängigmachen eines Streites seitens der EU-Kommission Vorauszahlungen für das schiedsgerichtliche Verfahren angeordnet werden können (advance pay­ment of arbitration costs). Das bedeutet in der Praxis eine Abschreckung, sein Anliegen vor das Schiedsgericht zu bringen. Solches liegt in der plutokratischen Tradition der US-Rechtsprechungspraxis, die hiermit nach Europa hereingetragen wird.
So wie die derzeit bekannte vorgesehene Gestaltung der Schiedsgerichtsbarkeit aussieht, ist es eine in schöne Worte gekleidete Sondergerichtsbarkeit für Konzerninteressen zu Lasten der Allgemeinheit. Wenn man bedenkt, dass gegenwärtig weltweit bereits diverse Schiedsklagen in der Höhe von rund 14 Milliarden US-Dollar laufen und dass gemäß dem bislang bekannten TTIP-Text Konzerne auf Schadenersatz für erhoffte Gewinne sowie gegen missliebige (gewinneinschränkende) Gesetze und die Entscheidungen nationaler Instanzen klagen könnten, dann müssen selbst bei US-Freunden die Alarmglocken läuten.
Der NAFTA-Fall «Elli Lilly & Co. gegen Kanada» zeigt die Gefahr auf: Im Rahmen des mit den USA geschlossenen Nordamerikanischen Handelsabkommens (NAFTA) verklagt der US-Pharmakonzern den Staat Kanada auf Schadenersatz in der Höhe von 500 Millionen US-Dollar, weil das strenger prüfende kanadische Patentamt die Patente auf zwei Psychopharmaka aberkannt hat. Es geht um angepriesene Medikamente gegen Aufmerksamkeitsverlust bei Hyperaktivität und gegen Schizophrenie.
Dass das eingelullte EU-Parlament mit konservativer Mehrheit noch rasch vor der Wahl einer Reglung der finanziellen Zuständigkeit bei Investor-Staat-Streitigkeiten vor Schiedsgerichten zugestimmt hat, um die TTIP-Verhandlungen nicht aufzuhalten, ist bezeichnend. Dass dies trotz eines laufenden – offenbar nur als Beruhigungspille eingeleiteten – Online-Konsultationsverfahrens erfolgte, muss jeden Demokraten stutzig machen. Ein solches Vorgehen ist schlicht eine Verhöhnung der befragten Bürger.
Die generelle Vorgangsweise ist offenbar dahingehend angelegt, im kleinen Kreis der «Stakeholder» vollendete Tatsachen zu schaffen, um dann den Parlamentariern zu erklären, dass man das ausgehandelte Regelwerk ohne massiven Schaden und gefährliche ­politische Verstimmung jenseits des Atlantiks nicht ablehnen könne. Die Öffentlichkeit, ja sogar nach der lokalen Verfassung berufene Organwalter wurden und werden vom Informationsfluss ausgeschlossen. So hat sich der deutsche EU-Bundesratsbeauftragte Hans Jürgen Blinn öffentlich beschwert, dass er über die Verhandlungen nicht informiert wird und dass ihm eine solche Vorgangsweise bisher noch nie begeg­net ist. Der EU-Chef-Verhandler, der Spanier Ignatio Garcia Bercero, hat in Wien zugegeben, dass nur die beauftragten Anwaltskanzleien Zugang zu den Zwischenergebnissen haben, zumal «ein gewisses Mass an Vertraulichkeit» erforderlich sei. Die Anwaltskanzleien sind aber die Handlanger der «Stakeholder». Freier Handel wird also unfrei verhandelt.
Neben der Taktik, die Lissabonner Verträge («EU-Verfassung») und die nationalen Verfassungen mittels Staatsverträgen zu umgehen (klassisches Beispiel ist der ESM), muss im gegenständlichen Fall noch eine weitere Taktik der Schaffung vollendeter Tatsachen aufgezeigt werden: Unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde das CETA-Abkommen mit Kanada verhandelt, das nun zur Ratifikation ansteht. Es ist teilweise eine Blaupause für das TTIP. Wenn das CETA durchgeht, dann kann man argumentieren, dass man doch den USA nicht verweigern könne, was man Kanada schon zugestanden hat.
Seit dem Offenbarwerden der US-Spionage im Wege der NSA weiss man, dass die EU-Verhandlungspapiere dem US-Verhandlungspartner voll bekannt sind. Daher kann sich die weiterhin gepflogene Geheimniskrämerei der Kommission und des Verhandlungsteams nur gegen die eigenen Leute richten, denen man nicht reinen Wein einschenken will. Es ist bezeichnend, dass in einem aktuellen Informationstext des österreichischen BMWFW der Satz steht: «Im Rahmen der Ratifikationsprozesse werden die Abkommenstexte auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Also fait accompli …
Wenn man im Interesse des Gemeinwohls Druck auf den Verhandlungspartner ausüben wollte, dann müsste die Vorgangweise gerade umgekehrt laufen: «Freunde! Wir sind im demokratischen Europa verpflichtet, die Bevölkerung und insbesondere die Parlamentarier voll über alle Verhandlungsschritte zu informieren. Wenn wir diese Regelungen offenbar machen, dann können Sie das geplante Abkommen abschreiben, weil wir nie die Zustimmung der Parlamente erhalten werden.» Ich spreche hier nicht als Theoretiker, weil ich diese Vorgangsweise seinerzeit selbst bei Verhandlungen im GATT erfolgreich angewendet habe.
Dass die Gefahr der Ablehnung beziehungsweise Korrektur durch die nationalen Parlamente von der willfährigen Kommission gesehen wird, zeigt eine Ankündigung des bisherigen Handelskommissars, Karel de Gucht, dass er den EuGH anrufen wolle, um festzustellen, ob die nationalen Parlamente überhaupt gefragt werden müssen.
Abschliessend soll noch auf die wiederholten Beruhigungsfeststellungen, dass in den Leitlinien und im künftigen Vertrag ohnehin das Recht der eigenständigen Regulierung (right to regulate) und die Arbeitsklausel (labour clause) enthalten seien, die eigenständige Normen zum Schutz der Arbeitnehmer, der Konsumenten und der Bürger im allgemeinen (Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz) zulassen, eingegangen werden: Wenn in einem Freihandelsraum Güter, die in einem Mitgliedsland zum freien Verkehr zugelassen worden sind, in Verkehr gebracht werden, dann haben sie überall Marktzutritt. Jene Anbieter, die auf Grund höherer ökologischer und sozialer Standards mit höheren Kosten zu rechnen haben, werden ausgepreist und vom Markt verdrängt. Es kommt zum Wettbewerb nach unten (race to the bottom), bei dem sich das Schutzniveau auf das im Freihandelsraum vorhandene niedrigste Niveau anpassen muss.
Was sollte nun die Schlussfolgerung sein?
Nach dem oben Gesagten müsste es heißen: Zurück an einen demokratisch legitimierten Start! Was auf Konzernebene ausgekocht wurde, muss nicht automatisch dem Wohle der Gesamtgesellschaft entsprechen.
Vor allem müsste vom Partner verlangt werden (und die Zeit ist reif hierzu), dass er seine gemeinwohlorientierten Hausaufgaben macht, weil er sonst kein geeigneter Partner ist. Wer sich mit einem in Wirklichkeit Todkranken ins Bett legt, wird nicht gesund, sondern angesteckt. Wenn nämlich die USA ihre Finanzordnung und mit dieser ihr Sozialsystem nicht gemeinwohlorientiert reformieren, dann besteht die Gefahr, dass sie im Wege der geplanten «umfassenden Wirtschaftspartnerschaft» ihre Probleme zunehmend nach Eu­ropa exportieren.
Es sollte aber auch die Frage gestellt werden, wieso die WTO durch bilaterale Abkommen laufend umgangen werden soll. Dieses allen Staaten zugängliche Regelwerk (das auch zur Reform ansteht), würde nämlich ausreichen, um die angegebenen Ziele zu erreichen, und hätte den Vorteil, dass wünschenswerte Ergebnisse allen Staaten weltweit zu Gute kommen.

Zzitiert aus der Schweizer Wochenzeitung Zeit-Fragen Nr. 23/ 24 vom 23. September 2014